Vortragender: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Eideneier
Wie sollte er? Wo es damals doch gar keine „Bücher“ im heutigen Sinne in Athen der Klassischen Zeit gegeben hat und man, obwohl man lesen konnte, nicht selbst las, sondern von professionellen Vortragskünstlern vorlesen ließ? Zwischen den Philosophen Platon und Aristoteles wird heutzutage ein Einschnitt konstruiert, der den Durchbruch zur griechischen Buchkultur anzeigen soll. Ausgangspunkt dieser Theorie ist in der Regel ein Ausspruch Platons, nach dem er seinen Schüler Aristoteles einen Anagnostes genannt haben soll. Dieser wird dann als „Leser“ verstanden, obwohl damit jener professionelle, oft unfreie Vorleser gemeint ist. Wenn darüber hinaus dieser „wiedererkennende Vorlesevorgang“ Anágnosis in den westlichen Schriftkulturen (heute etwa bei performance anzusiedeln) als „Lektüre“ missverstanden wird, können wir auch erklären, warum in Raffaels berühmter „Schule von Athen“ Platon und Aristoteles mit dicken Codices unter dem Arm dargestellt sind. Meinungsbildend war in moderner Zeit vor allem das als Schlüsselwerk eingeschätzte Buch von Frederic G. Kenyon Books and Readers in Ancient Greece and Rome, Oxford 1932. Im griechischen Osten versieht der lesekundige Anagnostes in den griechisch-orthodoxen Klöstern bis heute diesen Dienst des kunstgerechten Vortragens vor Hörern, und der Priester verliest bis heute den Prosatext des Evangeliums „emmelós“, d. h. „melodiös“.
09.12.2019 , 19:00 Uhr
Ort: Hörsaal RS 2, Rosenstraße 9, Hofgebäude, 48143 Münster
Partner: Deutsch-Griechische Gesellschaft Münster
Quelle: suedosteuropa-gesellschaft